Montag, 23. August 2010

Meine neue Heimat



Ich mache es mir aufgrund eines upgrades auf Platz 1A bequem auf dem Flug Frankfurt – Buenos Aires Ezeiza. Mein neuer Lebensabschnitt wird mit Champagner mächtig eingeläutet, der Service der Lufthansa ermöglicht mir einen hervorragenden Start in Richtung Argentinien. Ich schwelge in Träumen welche mein argentinischer Sitznachbar aber gekonnt zu unterbrechen vermag. Weshalb ich nach Argentinien verreise, einem Land das von einer Frau regiert wird und dessen Wirtschaft den Bach runter stürzt. Aber Deutschland habe ja die gleiche Ausgangslage in Bezug auf die Besetzung des Regierungssitzes, also liege das Problem ja wirklich am Geschlecht…Auf meine Frage, ob er denn nichts dazu beigetragen habe, dass sich Argentinien in der Krise befindet – man bedenke alle jeglichen Steuerhinterziehungen – reagierte er ziemlich beschämend, somit ging unsere Sitznachbarbekanntschaft in eine neue Phase – und ich genoss einen herrlich ungestörten Flug in Richtung Buenos Aires. Um nicht stereotyping zu betreiben, habe ich diese Unterhaltung mit diesem wohl über 80ig jährigen Mann ganz schnell in eine Schublade gesteckt und abgehakt.
Buenos Aires, eine Stadt die vor Lebenslust brodelt. Die Menschen hier sind alles andere als deprimiert oder durch die momentan herrschende wirtschaftliche Unsicherheit betrübt. Es lebt, es brodelt, es wird gefeiert. Die Energiezufuhr erhalte ich nicht wie üblicherweise durch Vitamine, sondern durch die Ansteckung dieser ungeheuren Lebensfreude der Argentinier. Es ist ein Wahnsinn, wie viele Lächeln dir jeden Tag entgegen fliegen, wie hilfsbereit sie sind. Und dies, obwohl viele von den Argentiniern selber Hilfe benötigen würden. Ein soziales Auffangnetz gibt es hier nicht, dementsprechend ist die Anzahl der Bettlern und Obdachlosen enorm. Was mir auch auffiel ist die Tatsache, dass es viele Menschen mit „unterschiedlichen Augenwinkeln“ gibt. Ob dies daran liegt, dass hier die Behandlungsmethode einfach zu schlecht ist, das Geld fehlt oder einfach aus dem Grund, dass Buenos Aires eine Millionenmetropole ist und dir einfach mehr Menschen entgegen kommen was die Anzahl der Betroffenen erhöhen könnte, weiss ich nicht so genau.
Die Stadt ist riesig, wird aber durch ein fast einwandfreies Metronetz, wo du dich zu fast jeder Tages- und Nachtzeit hineindrängen musst und im Gerüchtemix von Drittpersonen schwelgst, ziemlich gut vernetzt und ermöglicht so ein relativ schnelles Erreichen jeglicher Stadtteile – auch wenn ich auf die Begegnungen besonderer Art auf dem Weg gänzlich verzichten könnte. Das andere Fortbewegungsmittel ist der Bus, wobei du auch bei Ungewissheit relativ schnell entscheiden musst, welche Linie man besteigt, reissen diese doch kleinere Gruppen gänzlich auseinander in dem einfach Einzelne stehen gelassen werden, wie persönliche Erfahrungen gezeigt haben .
Die Argentinier sind extrem innovativ, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass sie aus vielen unmöglichen Situationen das Möglichste machen müssen. Diese Innovation reicht von den Hundenannys, deren Besitzer des jeweiligen Vierbeiners diesen irgendwo an einem Strassenrand festmachen und dann von der Nanny abgeholt wird, bis zu den 100 verschiedenen Deliverys bei denen du den Magen richtig voll schlagen kannst. Ob indisch, chinesisch, sushi, milanesas, carne oder sonst etwas, das Angebot ist riesig und trägt offensichtlich zu der neu gewonnenen Kochfaulheit bei. Das Fleisch hier ist der Wahnsinn und lässt manche Gourmetherzen höher schlagen.
Im Gegenzug erstaunt mich aber auch so Einiges hier im Negativen. Die Abfallentsorgung zum Beispiel ist hier ja sehr speziell. Recycling? Ja, aber diese erfolgt auf den Strassen, indem Leute – ob das offizielle Angestellte sind oder einfach Personen die sich etwas dazu verdienen wollen weiss ich nicht - den Abfall aussortieren und die Pet-Flaschen sowie den Karton separat wieder entsorgen. Welche Logik dahinter steckt ist mir schleierhaft. Des Weiteren wird deine Geduld in den Supermärkten und überall wo es eine fila – sogenannte Warteschlange – hat, meist ziemlich auf die Probe gestellt. Es kann durchaus sein, dass du den Supermarkt bei Tageslicht betrittst und bei Dunkelheit wieder verlässt. Ich spreche hier ebenso aus Erfahrung 
Ein grosses Thema hier ist natürlich für uns Europäerinnen der Umgang mit den argentinischen Männern. Würde ich für jedes Hinterherpfeiffen und Hingucken jedes Mal eine moneda verlangen, wäre mein Lebensunterhalt hier schon fast bezahlt. Leider geht dieses Problem aber noch weiter. Im Ausgang als Frau kurz alleine stehen bleiben? Dann wirst du Mitglied einen sich immer grösser werdenden Kreises. Und wie lauten die Anreden der Argentinier oder auch der Brasilianer? Auf Deutsch übersetzt könnte dies etwa so lauten: „Hallo, ich heisse Juan und bin für heute dein Sofa….“ Ja, wovon andere vielleicht träumen, kann dies hier manchmal zu ziemlich mühsamen Situationen kommen. Manchmal staune ich hier wirklich Bauklötze mit welcher Dreistigkeit ich manchmal angesprochen werde. Aber diesen kleinen kulturellen Unterschieden kannst du auch mit einem Lächeln begegnen.
Die UADE – unsere Fakultät für dieses Jahr – liegt in einem nicht ganz ungefährlichen Viertel nahe SanTelmo, ist aber auch dank des Metronetzes gut zu erreichen. Das Geschehen rund um den Unterricht ist aber wesentlich interessanter als dieser selber. Da wird Mate (spezieller Tee) mit dem Prof geteilt, inmitten im Unterricht etwas zu Essen geholt – und wohlverstanden dies dann auch während dem Unterricht verzehrt, der Prof wird auch prof gerufen, als wenn dieser keinen Namen hätte, Manschettenknöpfe weisen auf eine „greisige“ Unterrichtszeit hin, und das wohl spannendste ist das Thema mit der Zeit. Offiziell kriegst du eine halbe falta (Fehlstunde) wenn du zu spät im Unterricht erscheinst (8 halbe darfst du dir erlauben). Nun aber, was passiert wenn auch die Lehrer regelmässig 15 bis 25 min später auftauchen? Somit liegt es relativ nah, dass diese falta natürlich erst gilt ab der Anwesenheit des Lehrers. Somit wäre dieses Problem auch wieder geklärt und der Freitagmorgen Unterricht somit aus der Schusslinie der Absenzen.
Seit 5 Wochen weile ich nun in der Hauptstadt Argentiniens, und ja, mein soziales Netzwerk habe ich schon ziemlich ausgebaut, meinen Alltag schon vollumfänglich im Griff mit allen Tücken des argentinischen Lebens, die Wohnung wurde auch schon mit den zwei grössten Haushaltshengsten überhaupt bezogen, bedarf aber noch einer grossen Besserung, wollte ich nicht die Konsequenzen ziehen, der Sommer naht, das Heimweh hat mich bis jetzt noch kein einziges Mal heimgesucht, der Tango fasziniert mich immer wieder von Neuem…Ja, ich kann behaupten, dass ich angekommen bin! La sonrisa del sur im wahrsten Sinne des Wortes.